Ein „grundsätzlich enormes” Problem
Forum Migration: Frau Graef-Calliess, Sie warnen, die Dynamik des Problems von Demenzversorgung bei Migrant_innen werde unterschätzt. Um wie viele Menschen geht es?
Iris Graef-Calliess: Das Angebot unserer Schwerpunktklinik
in Wahrendorf ist primär für türkische und
russische Familien ausgerichtet – die in die Jahre gekommene
so genannten Gastarbeiter- und Spätaussiedlergeneration.
Wir haben dazu keine bundesweiten
Zahlen. Aber das Problem ist grundsätzlich enorm.
Das fängt schon damit an, dass die Demenz in manchen
Kulturen gar nicht als Krankheit betrachtet wird.
Was tun Sie dagegen?
Es braucht sehr viel Psychoedukation. Es muss
aufgeklärt und entstigmatisiert werden. Da ist sehr
viel Scham im Spiel. Zur fehlenden Wahrnehmung
als Krankheit kommt noch ein zweites Problem: unterschiedliche
kulturelle Hilfesuchverhalten, andere
Behandlungserwartungen.
Was bedeutet das?
Dass die Erkrankung nicht in den medizinischen
Kontext gestellt wird. Da geht es dann um
die vermeintliche Ehre der Familie. Die Angehörigen
denken: Das müssen wir in der Familie auffangen.
Und dann nehmen sie deshalb keinerlei
Hilfen in Anspruch. Das funktioniert aber immer
schlechter.
Warum?
Weil sich gleichzeitig die Familienstrukturen ändern.
Auch die mittlere, zweite Generation ist beruflich
heute schon mobiler. Sie versuchen aber gleichzeitig,
den kulturellen Anforderungen Genüge zu tun
– und sind dann regelmäßig fix und fertig.
Das Problem liegt also bei den Angehörigen?
Natürlich nicht nur. Es gibt auch diagnostische Probleme. Unter den Bedingungen eines häufig geringen Bildungsniveaus bei der ersten türkischstämmigen Gastarbeiter-Generation und unzureichenden Sprachkenntnissen – wie wollen sie das genau sagen, was ein Mensch hat?
Und wie?
Wir arbeiten etwa mit einem türkischsprachigen
Facharzt, der unser Projekt begleitet und in Ankara
lange in der Gerontopsychiatrie gearbeitet hat. ,Cross
Cultural Assesment’ ist das Schlagwort. Da muss forschungsmäßig
noch einiges passieren, um kulturübergreifend
und IQ-unabhängig Demenz erfassen zu können.
Und wir müssen da jetzt ran, mit Bewusstseinsbildung.
Das Problem kommt immer stärker auf uns zu. Die
nächsten Älteren stehen gewissermaßen schon bereit.
Zentrum für Transkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie: http://bit.ly/2hMLs6h